Leidenschaft als Treibstoff

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Der Multitechnologiekonzern 3M zählt zu den innovativsten Unternehmen weltweit. Eine Spurensuche nach der Formel für Innovation in der Neusser Deutschlandzentrale.

Schon als Neil Armstrong den Mond betrat, bestand ein Teil seiner Ausrüstung aus Produkten von 3M. Heute sind Innovationen des US-Konzerns in nahezu allen Bereichen des Lebens, der Arbeitswelt, der Medizin und der Technik zu finden. Das Unternehmen selbst wirbt damit, dass man nie mehr als drei Meter von einem 3M-Produkt entfernt sei. Das könnte sogar stimmen, zählt das globale Unternehmen doch 55.000 unterschiedliche Produkte zu seinem Portfolio: vom Post-it bis zum Hightech-Klebstoff, von der Atemschutzmaske bis zum Spülschwamm. Und 8.000 Forscher in der ganzen Welt arbeiten daran, täglich neue zu entwickeln. Einer der Forscher heißt Ingo Wagner. Er ist seit 22 Jahren im Unternehmen und leitet in Neuss das Corporate Research Lab Westeuropa – eine Einheit, die Produkte entwickelt, die in etwa fünf bis zehn Jahren gebraucht werden. Mehr Innovation geht kaum. Er selbst hat 26 der über 25.000 3M-Patente entwickeltund ist damit für einen großen Umsatzanteil von 3M verantwortlich. „Wir erforschen Dinge, die es heute noch nicht gibt“, beschreibt Wagner seinen Job. Mehr als 1,9 Milliarden US-Dollar investiert 3M jährlich in die Forschung und Entwicklung. Innovation hat hier Tradition, denn bereits seit Unternehmensgründung 1902 im US-Bundesstaat Minnesota hat 3M so unterschiedliche Dinge erfunden wie elektronische Hochleistungsgeräte, Kommunikationsnetze, Schutzausrüstungen, Pflaster für sensible Haut, industrielle Filter, Schleifbänder bis hin zu alltäglichen Dingen wie Klebeband und eben den berühmten Haftnotizen.

Grundlage für die Innovationskraft von 3M ist die vielfältige Nutzung von 46 eigenen Technologieplattformen, also Kleb- und Füllstoffen, Mikroreplikation und Nanotechnologie, bis hin zu Produkten für Zahnheilkunde und Kieferorthopädie. Das erlaubt den Forschern, Wissenschaften aus einem Bereich in einen anderen zu übertragen und verschiedene Technologien miteinander zu verschmelzen. Was für ein Automobil funktioniert, kann vielleicht für einen Zahn der große Durchbruch sein. Innovation setzt Offenheit gegenüber Wissen und Ideen von außen voraus. „Customer-Inspired Innovation“ heißt das bei 3M. Man pflegt Transparenz und Netzwerk. Kunden wie zum Beispiel Automobilkonzerne werden in die Zentrale eingeladen, man spricht mit ihnen über Probleme und versucht mit dem eigenen Wissen maßgeschneiderte Lösungen anzubieten – gemeinsam.

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„Wir hatten schon immer eine kreative Unruhe in uns“

„Wir wollen keine Forschung im Elfenbeinturm“, betont Ingo Wagner. Zum Teil stehen Kunden und Forscher Schulter an Schulter im Labor. Rund 35 Prozent des Umsatzes macht 3M mit Produkten, die weniger als fünf Jahre auf dem Markt sind. Es gibt kaum einen Industriekonzern, der über eine solche Innovationskraft verfügt. Doch wie kann ein Unternehmen über so einen langen Zeitraum innovativ sein? „Wir pflegen einen Start-up-Spirit“, sagt Stephan Rahn, der als Unternehmenssprecher Vorträge an Hochschulen über Innovationskultur hält. Und der die Innovationsformel in der permanenten Selbsterneuerung des Unternehmens sieht: „Konzerne, die über Jahrzehnte starr geblieben sind, haben aktuell einen Riesendruck, sich zu verändern. Wir hatten schon immer eine kreative Unruhe in uns. Wir sind nie mit dem aktuellen Status zufrieden.“ Täglich fragt man sich bei 3M, ob man etwas anders, besser machen kann. Der Drang nach Innovation ist in der ganzen Unternehmenskultur verankert. Wenn 3M neue Mitarbeiter rekrutiert, suchen die HR-Mitarbeiter nach dem gewissen Glitzern in den Augen. „Leidenschaft ist der eigentliche Treibstoff“, fasst Stephan Rahn zusammen, „mit Technologien allein können Sie nichts reißen. Mit Geld allein können Sie auch nichts reißen. Sie brauchen Leute, die dafür brennen.“ Leute wie Ingo Wagner, die ihre Passion an Mitarbeiter weitergeben. Denn Zusammenarbeit ist die Grundlage aller Aktivitäten von 3M. Das Unternehmen verbindet Menschen mit Wissen und Erfahrungen aus unterschiedlichsten Fachrichtungen. Und Diversität wird hier gelebt. In der Deutschlandzentrale in Neuss arbeiten Menschen aus allen Ländern. 

„Die Vielfalt, die wir haben, ist die Grundrezeptur, um auf neue Ideen zu kommen. Jeder wird akzeptiert, wie er ist. Auf Augenhöhe. Egal, welche Hautfarbe jemand hat, wie alt er ist oder ob er einen Hochschulabschluss hat“, sagt Rahn.

Das Personalmodell von 3M baut auf Stärken, Hierarchien sind nicht spürbar. Der Werkstudent sitzt neben dem Geschäftsführer beim Meeting – ganz ohne Berührungsängste. Das ist selten in Großkonzernen. Jeder darf alles hinterfragen. Jeder ist aufgefordert zu forschen. Jedem Mitarbeiter stehen 15 Prozent der Arbeitszeit für eigene Projekte zur Verfügung. Das befreit sie von ihrer alltäglichen Arbeit und motiviert sie, mit Begeisterung nach neuen Lösungen zu suchen. Denn Ideen brauchen Zeit, um wachsen zu können. Bei 3M bekommen Mitarbeiter diese Zeit ganz ohne Kontrolle oder Stechuhr. Schon der ehemalige Konzernchef William McKnight wusste in den 1940er-Jahren: „Hire good people and leave them alone!“

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„Wir haben nicht einen Innovationsmanager, wir haben 90.000“

Ein Großteil der Innovationen ist in dieser freien Zeit entstanden. „Unser Wettbewerbsvorteil sind unsere Menschen. Wir haben nicht einen Innovationsmanager, wir haben 90.000“, sagt Ingo Wagner stolz. 3M hat kein betriebliches Vorschlagswesen. Sehen die Mitarbeiter etwas, was nicht so gut läuft, sollen sie keine Mail schreiben und einen Bonus erhalten, sie sollen am besten gleich ein Team bilden und das Problem selbst lösen. „Wir leben eine Kultur, die uns anregt, anders zu denken – deshalb handeln wir auch anders. Dies bringt uns vorwärts und stellt sicher, dass wir stets auf dem neuesten Stand in den Bereichen Wissenschaft und Technologie sind“, erklärt Rahn.

Corporate Research Labs, also Forschungs-Units, gibt es in den USA, Westeuropa, China und Japan. Der Frage, welches davon am innovativsten ist, weicht man bei 3M aus. „Wir sind eine Familie und begreifen uns als eins. Denn nur so können wir aus den verschiedenen Kulturen heraus Neues schaffen“, sagt Ingo Wagner. Dennoch hat Deutschland einige Standortvorteile, denn hier gibt sich die Automobilindustrie die Klinke in die Hand. „Deutschland ist in Sachen Innovation gut im Rennen, weil es Global Player hat. Wir haben eine tolle Start-up-Kultur und Leute, die auf Zack sind“, fügt Stephan Rahn hinzu. Die globale Vernetzung mache das Innovieren mittlerweile einfacher, aber das sei auch ein Vorteil für andere Unternehmen. Allgemein sei der Innovationsdruck gewachsen, so Wagner: „Man muss sich heute einfach mehr anstrengen.“ Die größten Innovationsschritte macht 3M in Sachen Digitalisierung. Alle Produkte müssen sich diesem Trend anpassen. Und so beschäftigen Ingo Wagner und seine Kollegen Fragen, wie man etwa ein Klebeband smart machen kann, Schweißmasken mit einer Cloud verbindet oder die Reflektorik von Verkehrsschildern digitalisiert.

Damit ein Produkt, an dem gerade in Indien geforscht wird, in Deutschland nicht zeitgleich erfunden wird, muss die interne Kommunikation stimmen. Vernetzen und miteinander reden sind das A und O. Damit sichergestellt wird, dass jeder der weltweit 8.000 Entwickler ungefähr weiß, was der andere tut, wurde das sogenannte Tech-Forum ins Leben gerufen –  eine Community-Plattform, auf der sich alle Entwickler global unterhalten. Jede Woche gibt es Vorträge von Spezialisten per Skype. Jeder kann sich einschalten und anschließend gibt es eine Diskussion. Entwicklungen, die besonders clever waren, werden über ein Preissystem belohnt und die Erfinder werden offiziell geehrt. Deutschlandweit werden die besten 50 Ideen oder Technologien vorgestellt. Die drei besten Tüftler werden in die USA ins Headquarter eingeladen und dort von 50.000 Kollegen gefeiert. Denn 3M ist weiß, wie wichtig es ist, Menschen anzuerkennen und als Team hervorzuheben, damit die Leidenschaft zu innovieren am Leben erhalten wird. Auch Ingo Wagner stand in der Konzernzentrale in Minnesota auf der Bühne und kehrte mit dem Gedanken zurück: „Ich will noch mehr erfinden, was die Welt verändert.“ ●

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„Man muss sich heute einfach mehr anstrengen“

Phänomen Post-it-War

Es gibt wohl kaum ein Büro, in dem nicht mit bunten Klebezetteln gearbeitet wird. Seit einigen Jahren verschönern Mitarbeiter auch ihre Fenster damit und schaffen regelrechte Kunstwerke, was wiederum andere Firmen motiviert, mit ähnlich kreativen Bildern zu kontern. Einige dieser Kunstwerke sammelt die Webseite www.postitwar.com.


Text: Karolina Landowski