Kunst trifft Hubert Ostendorf
“We have good
solutions against homelessness”
Das in Düsseldorf gegründete Straßenmagazin fiftyfifty ist weit über die Region hinaus bekannt und hat viele prominente Unterstützer:innen. Mit Geschäftsführer Hubert Ostendorf sprach VIVID-Herausgeber Rainer Kunst über Unternehmertum, das aktuelle Housing First-Projekt, bürgerliches Engagement und die Zukunft von fiftyfifty.
fiftyfifty wurde bereits 1995 gegründet. Warum gibt es immer noch so viel Wohnungslosigkeit in der Region?
Das Problem ist die ungerechte Verteilung. Wir haben zwar grundsätzlich ein gutes Sozialsystem, was wir verteidigen müssen, aber es hat auch viele Defizite. In Deutschland bestimmt nach wie vor die soziale Herkunft maßgeblich die soziale Perspektive. Was die Überwindung der Straßenwohnungslosigkeit anbetrifft, muss ich sagen, sind wir vor 26 Jahren optimistischer gewesen, weil sich der Wohnungsmarkt damals nicht so krass entwickelt hat. Zusammen mit den aktuellen Entwicklungen wie zum Beispiel die Nullzinspolitik ist der Wohnungsmarkt mittlerweile enger als jemals zuvor. Deswegen gibt es immer mehr Menschen, die arm sind und die vom Recht auf Wohnen ausgeschlossen werden.
„Wir haben zwar grundsätzlich ein gutes Sozialsystem, was wir verteidigen müssen, aber es hat auch viele Defizite.“
Wie habt Ihr es in dieser langen Zeit geschafft, als Medium erfolgreich zu bleiben?
Uns gibt es meines Erachtens deswegen noch, weil wir als glaubwürdig angesehen werden, weil wir prominente Unterstützerinnen und Unterstützer haben und weil wir geeignete Maßnahmen haben, um auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Ich nehme mal das Beispiel Digitalisierung. Die großen bürgerlichen Zeitungen haben alle in einem enormen Ausmaß verloren, also bis hin zu 90 Prozent der Auflage. Auch wir haben rund 50 Prozent der Auflage verloren, aber wir haben ein erfolgreiches Digital-Abo eingeführt. Das ist kein Ersatz und auch keine Konkurrenz für die Printausgabe, unserem Herzstück, aber es stützt sie. Durch das Digital-Abo können wir die Kostendeckung aufrechterhalten und können außerdem Kundinnen und Kunden außerhalb unseres Verbreitungsgebiets erreichen, die die Straßenzeitung nicht kaufen können – 60 Prozent der Digital-Abonnent:innen sind nicht aus der Region. Durch unsere Galerie, für die uns viele bekannte Künstler:innen ehrenamtlich Werke zur Verfügung stellen, können wir zudem national und international Geld einsammeln. So wird zum Beispiel eine Edition von Thomas Ruff auch in New York nachgefragt.
Im Oktober 2021 ist Euer Projekt „Housing First Düsseldorf e.V.“, das von der Stadt gefördert wird, an den Start gegangen. Kannst Du kurz skizzieren, worum es bei Housing First geht?
Den Ansatz Housing First fährt fiftyfifty schon seit 2014.
Wir zeigen damit, dass es gute Lösungen gegen Wohnungslosigkeit gibt, obwohl die Schere zwischen den Einkommen und den Mieten immer größer wird. Dafür haben wir uns vorher viel theoretischen Background verschafft und die Idee auch wissenschaftlich evaluiert. Kurz gesagt lautet das Konzept von Housing First: Wir kaufen für die Obdachlosen Wohnungen im normalen bürgerlichen Bestand, damit wir die Mieten selbst gestalten können. Das Geld dafür erwirtschaften wir mit den verkauften Kunstwerken unserer Benefiz-Galerie. Das Geld ist somit inflationssicher investiert, weil die Wohnungen im Wert steigen – was auch für die Künstler:innen eine attraktive Unterstützung ist. Und vor allen Dingen haben wir so lange wie diese Gebäude stehen – bei 2 % Abschreibung also 50 Jahre – dafür gesorgt, dass wohnungslose Menschen mit Wohnraum versorgt werden. Mittlerweile finden auch immer mehr Privatpersonen diese Idee gut, ihr Geld gut anzulegen und gleichzeitig etwas Gutes zu tun. Im Oktober 2021 ist nun der Verein an den Start gegangen. Das Konzept haben fiftyfifty, der Geschäftsführer von Thalia Michael Busch, der Notar Armin Hauschild, der Geschäftsführer der Düsseldorfer Drogenhilfe Michael Harbaum und Prof. Dr. Anne van Rießen von der Hochschule Düsseldorf erarbeitet, die Stadt finanziert dazu zwei Sozialarbeitsstellen.
Wie erfolgreich ist das Projekt bisher?
Wir haben in fünf Jahren Wohnraum für 60 Menschen geschaffen. Das bedeutet, wir konnten die Anzahl der Straßenwohnungslosen von etwa 400 auf unter 350 reduzieren in Düsseldorf. Das haben wir geschafft unter den aktuellen Bedingungen, dass es kaum Wohnungen gibt in der Stadt und dass die Wohnungen sehr teuer sind. Wir haben den Vorteil, dass wir die Wohnungen nicht finanzieren müssen, sondern sie direkt kaufen können und es schnell geht. Und die Makler machen dann auch die Erfahrung, dass es gut läuft und bieten uns im Gegenzug die Wohnungen häufig an, bevor sie überhaupt online gestellt werden. Das ist eine Win-Win Situation.
Kannst Du noch ein paar andere aktuelle Projekte von fiftyfifty beschreiben?
„Underdog“ zum Beispiel ist eine mobile Tierarztpraxis für Hunde von Obdachlosen. Das ist nicht nur ein Tierschutz-Projekt, sondern vor allen Dingen ein Streetwork-Projekt, denn damit erreichen wir Menschen, die wir sonst nicht erreichen würden. Weil sie für ihre Hunde alles machen würden. Bei „East-West“ kümmern wir uns um Armutsmigranten aus Osteuropa. Denn es hat eine jahrelange Diskussion darum gegeben, ob jetzt zum Beispiel eine rumänische Familie zur Klientel der Obdachlosen gehört. Es gab keine Arbeitsgenehmigungen für diese Menschen und damit auch keine Hilfen. Wir haben gesagt: Wenn eine Mutter mit ihrem Kind im Hofgarten schläft, dann ist sie obdachlos. Mit East-West haben wir eine Beratung für Menschen aus Osteuropa in muttersprachlicher Unterstützung geschaffen und durchgesetzt, dass sie Wohngeld kriegen. Und damit, dass sie angemeldet waren, haben wir einen wertvollen Beitrag zur Integration geleistet. Das ist einmalig in Deutschland.
Wie erlebst Du das bürgerliche Engagement in Düsseldorf?
Düsseldorf ist eine Stadt, in der es viele Menschen gibt, die nicht benachteiligt sind. Und ich erlebe, dass viele von denen sagen: Wir wollen davon was zurückgeben, etwas tun für arme Menschen. Durch unsere Galerie haben wir den Kontakt zu sehr vielen dieser Menschen. Und ich glaube, dass wir diese Zielgruppen aufgeschlossen haben durch die Kunst, die wir sonst durch den Straßenverkauf nicht erreichen.
Welche Herausforderungen siehst Du für fiftyfiftys Zukunft?
Ich glaube, dass langfristig Printmedien nicht überleben werden. Aber bei der Auflage, die wir jetzt noch haben, macht es Sinn, dafür zu kämpfen, dass wir diesen Prozess möglichst lange herauszögern. Die zweite Herausforderung wird die Abschaffung des Bargeldes sein. Deswegen haben wir unsere Verkäufer:innen, die lange bei uns sind, schon mal probeweise mit EC-Zahlungsgeräten ausgestattet. Das funktioniert auch und das wird die Zukunft sein.
Was wünschst Du Dir für fiftyfifty?
Ich hoffe, dass mehr Menschen verstehen, dass sie nicht einfach nur 1 Euro in den Becher werfen, sondern dass sie sagen: Wir kaufen eine Zeitung. Wir haben in Düsseldorf fast 700.000 Einwohner:innen. Wenn jeder 20. eine Zeitung kaufen würde, dann hätten wir überhaupt keine Probleme. Und das ist unsere Hoffnung. •
„Wir haben in Düsseldorf fast 700.000 Einwohner:innen.
Wenn jeder 20. eine Zeitung kaufen würde, dann hätten
wir überhaupt keine Probleme. Und das ist unsere Hoffnung.”
Über fiftyfifty
Founded in Düsseldorf in 1995, published monthly since then
Price on the street is 2.80 Euros, the sellers pay 1.40 Euros for the purchase, the difference is the profit.
Not all sellers are homeless, the offer is generally aimed at people affected by poverty.
The sellers are supported by social workers, also with the help of translators.
The magazine is only sold in areas where there is no other street magazine.
Area of distribution: Düsseldorf, Duisburg, Neuss, the Bergisches Land, Bonn, Essen and Mönchengladbach, occasionally Frankfurt am Main.
Wohnungslosigkeit – was heißt das?
Der politisch korrekte Terminus ist nicht Obdachlosigkeit, sondern Wohnungslosigkeit. Denn das Ziel soll sein, dass Menschen eine Wohnung haben und nicht nur ein Obdach. Es gibt bundesweit keine genaue Statistik darüber, wer wohnungslos ist. Die Zahlen orientieren sich an Schätzungen und Erhebungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe. Demnach sind derzeit etwa 650.000 Menschen bundesweit wohnungslos - Tendenz steigend.
Interview: Rainer Kunst
Words: Tom Corrinth
Pictures CELINE AL-MOSAWI