Pioneer in Life-Size Format

Eine der Frauen, die es in der Kunstszene zu großem Ansehen gebracht haben, ist Katharina Sieverding. Seit den 1970ern erarbeitet sie großformatige Montagen zu den gesellschaftlichen Fragen der Zeit. Zu ihren bekanntesten Werken zählen die Fotoarbeit „Schlachtfeld Deutschland“ von 1978, ein Statement zur RAF-Zeit, und die Plakataktion „Deutschland wird deutscher“ 1993 in Berlin, die die rechtsradikalen Übergriffe nach dem Mauerfall thematisierte. Ein Interview mit der Künstlerin über Kunst in Zeiten der Pandemie, ihren Lehrer Joseph Beuys und ihr politisches Statement. 

Katharina Sieverding vor ihrem eigenen Porträt und inmitten ihrer aktuellen Einzelausstellung, die bis zum 25. Juli 2021 in den Hamburger Deichtorhallen Fotografien, Projektionen und   Installationen aus den vergangenen fünf Jahrzehnten zeigt.

Katharina Sieverding vor ihrem eigenen Porträt und inmitten ihrer aktuellen Einzelausstellung, die bis zum 25. Juli 2021 in den Hamburger Deichtorhallen Fotografien, Projektionen und
Installationen aus den vergangenen fünf Jahrzehnten zeigt.

Sie sind seit 50 Jahren weltweit als Künstlerin erfolgreich. Nun lag aufgrund von Corona Ihre bislang größte Einzelausstellung im Dornröschenschlaf. 
Das ist ja eine liebenswürdige, märchenhafte Beschreibung. Doch diese Unsichtbarkeit generierte eine ganz neue, vehemente Öffentlichkeit durch Interviews, Fernsehen, Film, Presse, Magazine, Titelseiten und vieles mehr. Es boomte sozusagen in den Deichtorhallen-Hamburg-Harburg-Sammlung Harald Falckenberg. Auch der geplante Katalog ist ein Novum. Es wird ein visuell-visionärer Aufstieg, Rundgang und Abstieg über vier Etagen entlang 6500 Quadratmeter Wandfläche: Fotografien, Installationen, Projektionen 2021-1966. Die Bild-, Projektions- und Installationskonditionierung ermöglicht den Betrachtern eine Life-Size-Imaginierung durch Großformat, Bild-Räume, Kino-Magie, Großraum-Werbeflächen und ein Spiegelkabinett mit Außen- und Innen-Porträts. Harald Falckenberg rief mich letztens an und bemerkte, dass noch nie eine Ausstellung in der DTH-Sammlung Falckenberg ein so hochfrequentiertes Resonanzinteresse erzeugt hat.

Was macht der Stillstand mit Ihnen als Künstlerin? Was bedeutet er für den Kunstbetrieb überhaupt? 

Ich arbeite kontinuierlich mehr, stelle mich den vielen Interviewanfragen zur Verfügung. Denke über die fünf Jahrzehnte nach, welchen Beitrag ich geleistet habe und wie schädlich dieser „Lock-down“ von Kultur und Kunst im Besonderen ist.

Wie beurteilen Sie die Situation für Kunstschaffende in Düsseldorf?

Eine Katastrophe, wie allerorten. Zwei Beispiele: Ich bereite eine Ausstellung vor für das „Parkhaus“ im Malkastenpark, eine der ältesten Gartenanlagen in Düsseldorf, die unter Denkmalschutz steht. 1860 wurde der Jacobigarten vom Künstlerverein Malkasten unter seine Obhut genommen. Die Ausstellung „Gefechtspause 2021“, ist die letzte offensichtlich, das Parkhaus soll zugunsten von Neubauprojekten abgerissen werden. Uralte Bäume sind schon gefällt. Dann Joseph Beuys. Im Mai 2021 würde er 100 Jahre. Seine Wohn- und Wirkungsstätte Drakeplatz 4 steht erneut zum Verkauf. Das Land NRW und die Stadt Düsseldorf würden durch den Ankauf einen Ort der Beuys-Forschung zur internationalen Bedeutung seiner Kunst und seiner Lehre an der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf ermöglichen, zum „Erweiterten Kunstbegriff“, zur „sozialen Plastik“ und „Kunst und Fotografie“ als Initiation für das „Deutsche Institut für Fotografie“ ermöglichen. (Die Beuys-Schülerin war in einem der Drakeplatz-Beraterteams und hat sich für einen Ankauf ausgesprochen. Es habe damals viele gute Ideen gegeben, die einen Kauf gerechtfertigt hätten, erinnert sie sich.)

Das Großfoto „Schlachtfeld Deutschland“ bezog sich im November 1978 auf die Studentenrevolte in der Bundesrepublik: Purpur auf Schwarz, wie auf einem Röntgenbild, taucht eine GSG-9-Truppe auf.

Das Großfoto „Schlachtfeld Deutschland“ bezog sich im November 1978 auf die Studentenrevolte in der Bundesrepublik: Purpur auf Schwarz, wie auf einem Röntgenbild, taucht eine GSG-9-Truppe auf.

Sieverdings Kunst ist nicht erzählerisch, sondern analytisch. Dazu gehört auch die bisher ungezeigte Arbeit „Gefechtspause II“, die auch eine Reaktion auf das ist, „was uns jetzt als virales Feindbild beschäftigt“.

Sieverdings Kunst ist nicht erzählerisch, sondern analytisch. Dazu gehört auch die bisher ungezeigte Arbeit „Gefechtspause II“, die auch eine Reaktion auf das ist, „was uns jetzt als virales Feindbild beschäftigt“.

„Ich wollte künstlerisch unabhängig, kritische Befunde, Statements mit großem Bildraum formulieren.“

Ihre Themen bewegen sich zwischen Selbstporträts und Politischem. Warum haben Sie sich, Ihr Gesicht, Ihren Körper als Ausdrucksmittel gewählt?
Zur Verdeutlichung und Erweiterung von Identität, Individualität, Repräsentanz im Gesellschaftskörper. Das sich im Foto personifizierende Ich ist weder mit sich selbst identisch noch jemand völlig anderer. Schneiden Bilder ins Geschehen ein, sind sie Geschehen, geschehen sie oder bilden sie ab? 

Die Kamera ist Ihr Medium – was war der Auslöser?
Mein Vater war Radiologe. Nach einem anfänglichen Medizinstudium, einer grandiosen Theaterarbeit mit Fritz Kortner und Teo Otto von 1963 bis 1967, vom Burgtheater Wien bis zu den Salzburger Festspielen, entschied ich mich am 2. Juni 1967, am Tag der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg anlässlich der Demonstrationen gegen den Staatsbesuch des iranischen Schahs Reza Pahlavi in Westberlin, Künstlerin zu werden. Ich wollte künstlerisch unabhängig, kritische Befunde, Statements mit großem Bildraum formulieren. 

Und dann sind Sie Joseph Beuys begegnet...
Zu meiner Zeit an der Kunstakademie Düsseldorf war er der einzige Lehrende, der mich interessierte – mit dem Erweiterten Kunstbegriff, der sogenannten „Sozialen Skulptur“. In diese Emanzipation von alt-traditionellem Kunstverständnis würde ich meine Arbeit von Beginn an mit einreihen. (1969 hat Sieverding die Ereignisse in der Klasse Beuys fotografiert. Täglich hat sie die Aktionen dokumentiert, um in Form einer Wandzeitung jene Studenten zu informieren, welche die Ereignisse des Vortags nicht erlebt hatten. Entstanden ist ein einzigartiges historisches Zeugnis – „Eigenbewegung“.)

Können Sie sich an die allererste Begegnung mit Beuys erinnern?
1965 sah ich seine Aktion in der Galerie Schmela „Wie man einem toten Hasen die Bilder erklärt“. Das hat mich sehr berührt.

Was ist von dem Mann mit Filzhut geblieben?
Er ist einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. „To be a teacher is my greatest work of art.“, hat er einmal gesagt. Wenn man die Vielzahl der Kunstkarrieren bedenkt, die von seiner Klasse ausgegangen sind, hatte er damit recht. 

Als Studentin dokumentierte sie die Studentenproteste vor der Kunstakademie. „Beuys sagte: Mach du das, eine(r) muss das machen. Du musst das machen: Kunst durch Fotografie innovieren“, so Sieverding.

Als Studentin dokumentierte sie die Studentenproteste vor der Kunstakademie. „Beuys sagte: Mach du das, eine(r) muss das machen. Du musst das machen: Kunst durch Fotografie innovieren“, so Sieverding.

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Großformatige Fotokunst verbunden mit politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen – dafür stehen Sie. Haben die „alten“ Statements noch Gültigkeit?
Ja, leider. Die aktualisieren sich immer wieder. Die Frage ist: Welchen Weltentwurf kann das Bild wagen und in radikaler Negativität den Tatbestand zur Entfaltung ins Künftige stellen?

Was empört Sie heute?

Der „biologische Krieg“, das „virale Feindbild“.

Wie wichtig war und ist für Ihre Kunst Klaus Mettig, Künstler, Lebenspartner und Vater der drei gemeinsamen Kinder Orson (Musiker und Produzent), Ossip (Zimmerermeister) und Pola (Künstlerin und Filmemacherin)?
Eine menschliche, berufliche und familiäre Schicksalsbegegnung. Eine Partnerschaft in höchster Verantwortung und Unterstützung. Ohne ihn wäre ab 1973 das Life-Size-Format nicht ermöglicht und realisiert worden. Er ist ein großartiger Künstler. 

Im November werden Sie 80 – Pläne?
Weiter arbeiten. •


VITA

• Born in Prague

• 1963-1964 Studies at the Academy of  Fine Arts in Hamburg

• 1964-1967 Studies at the Düsseldorf Art  Academy in the class of Teo Otto

• 1967 Change to Joseph Beuys' class, graduates as Beuys' master student 1972

• 1970s: Teaching positions in the USA and Canada

• 1992-2007 Professorship at the Berlin University of the Arts

• 1995-2007 Intermittent lectureship at the International Summer Academy in Salzburg. 

• 2002 and 2004 lectureship at the Academy of Fine Arts in Hangzhou/China. 

• Since 2010 lectureship at the Graduate School of the Berlin University of the Arts. 

• Her works are represented in renowned collections, including the Museum of Modern Art, New York, the San Francisco Museum of Modern Art, the Stedelijk Museum, Amsterdam, the Nationalgalerie, Berlin, the Museum Folkwang, Essen, and the Kunstsammlung NRW. Katharina Sieverding lives and works in Düsseldorf-Pempelfort. 


Katharina Sieverding

Sie gehört zu den Pionier*innen, die früh die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten von Fotografie erkannt haben und das Medium fortwährend inhaltlich und formal erweitern. Im Mittelpunkt ihrer Arbeiten stehen Transformations- und Präsentationsvorgänge, Fragen nach Identität, Gender und Race. Sie traut sich, die vermeintlichen Grenzen des Kunstbegriffs und der Fotografie auszudehnen. Bekannt geworden ist die Künstlerin durch die Konsequenz, mit der sie filmisch und fotografisch ihr zum Teil extrem vergrößertes und auf vielfältige Weise manipuliertes Porträt seit den 1960er-Jahren einsetzt. 


Interview Dagmar Haas-Pilwat
Pictures Katharina Sieverding