The Glue of the Family

 

Bilderbücher schaffen Momente der Nähe und öffnen gleichzeitig den Blick für die Vielfalt der Welt. Sagt der Kinderbuchautor und -illustrator Martin Baltscheit. Ein Gespräch über die Basis unserer kulturellen Bildung, über eigenwillige Charaktere und die Pflicht zum Happy End.


 

Jeremy Davies in The Million Dollar Hotel by Wim Wenders © 1999 Road Movies Filmproduktion - Courtesy of Wim Wenders Stiftung 


Lieber Martin, fangen wir direkt mit einer Grundsatzfrage an: Lesen Kinder heute noch genug? 

Nach meiner Erfahrung nicht. Auch meine eigenen Kinder lesen leider viel zu wenig. Stattdessen sitzen sie vor allem vor bewegten Bildern. Die aktuelle Erzählform – so schade das auch ist – ist heute der Kurzfilm oder eben Filmschnipsel wie Tiktok- oder Youtube-Videos. Die Wissenschaft ist sich weitgehend einig, dass das Folgen hat: Die Aufmerksamkeitsspanne nimmt ab, die Geduld ebenfalls. Für die meisten, Kinder wie auch Erwachsene, wird es immer anstrengender, sich auf eine längere Geschichte einzulassen, geschweige denn sich in sie zu vertiefen. 

Welche Rolle spielt da das Vorlesen?

Das Vorlesen halte ich für enorm wichtig. Jemandem zuhören, der uns in eine andere Welt nimmt – das tun wir doch alle wahnsinnig gerne! Auch weil wir dabei Erfahrungen sammeln, ohne sie selbst persönlich machen zu müssen. Aber leider gilt auch für das Vorlesen: Die Aufmerksamkeitsspanne sinkt. Darauf muss auch ich mich bei meiner Arbeit einstellen. Die Geschichten werden also zwangsläufig kürzer.

Ob kurz oder lang: Was macht eine gute Kindergeschichte aus?

Eine gute Geschichte sollte von liebevollen, eigenwilligen Figuren handeln, die uns auf ihrem Weg immer wieder überraschen, indem sie zum Beispiel absurde Abzweigungen nehmen und uns einen neuen Blick auf die Welt ermöglichen. Dabei kommt es natürlich auf die Art und Weise an, wie das alles erzählt wird. Ich sage immer, ich fühle mich einem üppigen Minimalismus verpflichtet. Ich versuche also, komplexe Dinge mit möglichst einfachen Worten zu vermitteln. Und vor allem: ohne erhobenen Zeigefinger. Denn auch Kinder wollen nicht belehrt werden.

Ich fühle mich einem
üppigen Minimalismus
verpflichtet.

„Die magische Kraft von Bilderbüchern gilt es zu fördern“, sagt Martin Baltscheit. 

Du bist dafür bekannt, dass Du Kindern auch schwierige Themen wie Demokratie, Integration oder auch Demenz nahebringst. Wie gelingt Dir das? 

Je weniger abgegriffen die Geschichte ist, desto größer sind meiner Ansicht nach die erzählerischen Möglichkeiten. Daher finde ich als Autor und Illustrator solche ernsten Themen oft umso interessanter. An ihnen hat man sich noch nicht so stark abgearbeitet. Was mich an diesen Themen ebenfalls reizt, ist, dass man mit Kindern sehr schön ins Philosophieren geraten und sich über Werte wie Freiheit oder Gerechtigkeit oder den Sinn des Lebens austauschen kann. Ich glaube, es gibt kaum ein Thema, das man einem Kind nicht vermitteln kann. Die Hauptsache ist: Es gibt ein versöhnliches Ende, es gibt Hoffnung und es gibt Freunde, die für dich da sind. 

Du hast dich kürzlich im Börsenblatt, einem Fachmagazin für Verlage und den Buchhandel, für eine staatliche Förderung für Bilderbücher ausgesprochen, damit gerade junge Künstlerinnen und Künstler der Buchbranche erhalten bleiben. Wie könnte diese Förderung konkret aussehen? 

Der Bilderbuchbereich hat bis heute keine Lobby und braucht dringend politische Anerkennung! Ich denke hier an eine Stiftung, die Bilderbuchautorinnen und -illustratoren gezielt unterstützt. Eine wechselnde Jury könnte sich der eingereichten Projekte annehmen und die geeigneten unter ihnen auswählen. Auch Weiterbildung wäre Teil des Stiftungsprogramms. So würden gute Ideen finanziell und ideell gefördert. Gleichzeitig würde nach außen hin ein Bewusstsein für mehr Qualität im Bereich Bilderbuch geschaffen. Daran hapert es meiner Ansicht nach sehr. Um ehrlich zu sein: Ich begreife nicht, warum wir andere wichtige Künste fördern, aber gerade das Bilderbuch außen vor lassen. Es ist unser kulturelles Fundament! Die erste Kunstform, mit der Kinder in Berührung kommen und deren Figuren und Geschichten sie zum Teil ihr Leben lang prägen. Ob es sich dabei um Pippi Langstrumpf oder um Greg und sein Tagebuch handelt. Noch dazu sind Bilderbücher das, was Eltern und Kinder oft zusammenhält, sie sind der Kitt der Familie. Sie schaffen Momente der Nähe und Ruhe und öffnen gleichzeitig den Raum für das Miteinander. Wenn Väter oder Mütter vorlesen, werden sie zu Schauspielern. Sie verbinden sich mit ihren Kindern auf eine einmalige Weise und laden sie mit den Geschichten ein, sich in andere Leben und andere Welten hineinzuversetzen. Diese magische Kraft von Bilderbüchern sollten wir fördern – und ich freue mich über alle, die sich dafür einsetzen. 

Es gibt kaum ein Thema,
das man einem Kind nicht
vermitteln kann.

Du selbst setzt dich bereits dafür ein, zum Beispiel mit der Bilderbuchakademie. Was steckt hinter der Idee? 

In der Bilderbuchakademie dürfen sich alle ausprobieren, die Kinderbücher lieben. Profis ebenso wie Bilderbuch-Liebhaber, aber auch Verlage, Schulen oder Unternehmen. An zwei Tagen widmen wir uns den mitgebrachten Ideen und erfahren mehr über das Handwerk des Schreibens und Illustrierens und über gutes Storytelling. Die erste Bilderbuchakademie hat im Frühjahr in Düsseldorf stattgefunden. Zehn Teilnehmende aus ganz unterschiedlichen Bereichen haben einander ihre Geschichten vorgestellt und daran gearbeitet. Vom hämischen Wutbürger bis zur Meerjungfrau mit Depression war alles dabei. Ein Wochenende voller Ideen und Glücksmomente, auch für mich. 

Für Unternehmen und Institutionen fertigst Du auch Kinderbücher im Auftrag an. Inwiefern interessiert es Kinder denn überhaupt, was Unternehmen zu sagen haben? Und welche Geschichten könnten das sein?

Wenn Unternehmen mich für ein Buch beauftragen, geht es immer um deren Werte, die in Form einer Geschichte erzählt und vermittelt werden sollen. Und zwar so, dass Kinder, aber auch Erwachsene den Sinn und Nutzen dahinter verstehen. Zum Beispiel lässt sich die Tätigkeit einer Rechtsschutzversicherung sehr anschaulich mit einer Geschichte über unser Grundgesetz erzählen. Damit wird der Bogen geschlagen zu unserem rechtsstaatlichen System und zu den großen Vorteilen, die wir in Deutschland dadurch haben. Es gilt also, den Wertekanon eines Unternehmens mit Inhalt zu füllen. Dabei sind die jeweiligen Firmen gefordert, die Kinderbrille aufzusetzen und ihren Blick zu öffnen. Und ich glaube, wer das tut – ob Groß oder Klein –, erlebt immer, dass die Welt viel Neues bereithält und dass wir sie alle gestalten können. •


Words: Elena Winter
Pictures: PR, Susanne Werding