Die Geschichte einer Hassliebe

Der Tausendfüßler ist ein gutes Beispiel, wie gern die Düsseldorfer über Stadtplanung streiten. Es scheint, als ob die Bürger Veränderungen gleichzeitig lieben und hassen. Die beiden Bauabschnitte des Kö-Bogens geben der Stadt ein neues Gesicht – ausgerechnet am Schauplatz vieler Proteste gegen Architektur.

Die Hochstraße am Jan-Wellem-Platz. Wegen ihrer Konstruktion wurde das Bauwerk von den Düsseldorfern Tausendfüßler genannt.

Die Hochstraße am Jan-Wellem-Platz. Wegen ihrer Konstruktion wurde das Bauwerk von den Düsseldorfern Tausendfüßler genannt.

Düsseldorf und der Tausendfüßler – das ist alles andere als Liebe auf den ersten Blick. Dabei erlebt das Bauwerk eine Beerdigung erster Klasse: Etwa 35.000 Menschen nutzen an einem Sonntag im Februar 2013 bei leichtem Schneefall noch einmal die Gelegenheit, über die Brücke zu laufen, bevor der Abriss beginnt. Die Peter-Weisheit-Band spielt. Es gibt Bratwurst und Schumacher Alt. Betonspechte schlagen als Erinnerung kleine Stückchen aus dem Bauwerk. Eine 51-jährige Beziehung geht zu Ende. Auf dem Grabstein, den es nicht gibt, könnte eine Aussage von Daniel Libeskind stehen. Der Architekt des Kö-Bogens vertritt eine klare Meinung: „Der Tausendfüßler hat eine wundervolle Struktur, aber es ist eine Struktur seiner Entstehungszeit.“

Der US-Amerikaner versteht, dass die Leute dazu „ein sentimentales Verhältnis“ haben. „Doch zugleich müssen wir auf den größeren Plan blicken, den Masterplan, der die Stadt für Fußgänger angenehmer macht, mehr Grün in die Stadt bringt und die Autos eliminiert“, erläutert Libeskind im November 2011 in einem Interview. Dieser moderne Masterplan legt das Bauwerk in Schutt und Asche. Zuvor hatte ein anderer Masterplan es aus der Taufe gehoben. Im Mai 1960 entscheidet sich der Rat für den Bau der „Hochstraße Jan-Wellem-Platz“, die der Volksmund rasch Tausendfüßler nennt. Die Stadtplaner um Friedrich Tamms haben sich in einem Architektenstreit um die Zukunft der Stadt durchgesetzt. Sie dürfen die gewünschte Nord-Süd-Trasse für den Autoverkehr durch die Innenstadt schlagen. Das Konzept einer Ringstraße um das mehr oder weniger autofreie Stadtzentrum war damit gestorben. Schon damals haben einige Stadtplaner vorgeschlagen, die Straße zwischen Kaiserstraße und Berliner Allee durch einen Tunnel unter dem neuen Jan-Wellem-Platz zu führen. Sie haben ihren späten Erfolg nicht mehr erlebt.

„Der Tausendfüßler hat eine wundervolle Struktur, aber es ist eine Struktur seiner Entstehungszeit.“

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Und die Beziehung zwischen den Düsseldorfern und der Hochstraße beginnt mit Protest. Sogar noch im Januar 1961 ziehen 10.000 Menschen durch den Hofgarten und demonstrierten gegen die Details der Baupläne, als die Bagger mit ihrer Arbeit längst begonnen haben. Diese massive Bürgerbewegung gilt heute als Rettung des Hofgartens, denn Stadtplaner Tamms wollte noch mehr Fläche des historischen Parks für seine Idee der autogerechten Stadt opfern. Auch die Johanneskirche am anderen Ende der Hochstraße wird zuvor nur durch Einwände von Bürgern verschont. Im Rückblick fällt es schwer zu verstehen, dass der Tausendfüßler trotzdem zum Sympathieträger aufsteigen konnte. Die Freude an einer Betonstraße im Herzen der Stadt ist wohl dem Zeitgeist geschuldet. Sie wird mit wohlwollenden Worten begleitet, Friedrich Tamms benutzt sogar den Anglizismus „Flyover“ als Ersatz für das Wort Hochstraße. So lassen sich vielleicht ein paar Mythen erklären. Das Bauwerk sei mit seiner elegant geschwungenen Form ein unverzichtbarer Bestandteil eines Ensembles mit dem Dreischeibenhaus und dem Schauspielhaus, heißt es.

Den meisten Menschen fällt das Akzeptieren von
Unabänderlichkeiten schwer.

Doch so viel visionäres Denken gab es nicht. Das berichtet der Sachverständige Geerd Dahms in seinem Gutachten zur Denkmalwürdigkeit der Hochstraße. „Die SPD stimmt dem Plan zu, weil er am schnellsten zu realisieren, weil er am billigsten ist und weil er die besten Möglichkeiten offenlässt, sich in späteren Zeiten neuen Gegebenheiten anzupassen“, zitiert Dahms aus Ratssitzungen. Der Tausendfüßler sei auch nicht eine der ersten Spannbetonbrücken Deutschlands. „Es handelt sich bei der Hochstraße um eine der vielen tausend Nachkriegsbrücken aus Spannbeton und eine von 14 Hochstraßen in Düsseldorf, die seit 1955 von Friedrich Tamms geplant und errichtet wurden“, schreibt der Gutachter. Noch vernichtender fällt das Urteil zur künstlerischen Bedeutung aus. Beim Tausendfüßler trete „die eklatante Störung der künstlerisch bedeutenden Baudenkmäler der Umgebung (Dreischeibenhochhaus, Schauspielhaus, Johanneskirche) in den Vordergrund“.

Die Bewertung des Sachverständigen für die Beurteilung der Denkmalwürdigkeit von Gebäuden entwickelt sich zum Todesurteil für den Tausendfüßler. NRW-Bauminister Voigtsberger hebt den Denkmalschutz der Hochstraße auf und genehmigt per Ministerentscheid den Abriss. Dahms muss sich beschimpfen lassen, er sei gekauft. „Es war für mich das erste Mal, das eines meiner Gutachten zum Gegenstand des öffentlichen Protests wurde“, erinnert er sich. Solche Situationen seien in seinem Berufsalltag selten. Er habe damals Verständnis für die Proteste und die viele Leserbriefe gehabt. „Nicht nur den staatlichen Denkmalschützern, sondern auch den meisten normalen Menschen fällt das Akzeptieren von Unabänderlichkeiten verständlicherweise schwer“, erklärt Dahms, der in Hamburg lebt.

Der Sozial- und Wirtschaftshistoriker hat eine spannende Beziehung zu Düsseldorf. „Ich war immer gern dort“, berichtet er. Seine Eltern spielten als Schauspielerehepaar in den 1950er Jahren unter Gustaf Gründgens und Karl-Heinz Stroux noch am alten Schauspielhaus. „Ich erinnere mich noch lebhaft an die Eröffnung des neuen Schauspielhauses im Januar 1970“, erzählt er, „die Stimmung war damals recht brenzlig.“ Für die erste Premiere waren nur geladene Gäste zugelassen. Demonstranten skandierten vor dem Gebäude: „Bürger in das Schauspielhaus – schmeißt die fetten Bonzen raus“. Nicht nur die hohen Baukosten, auch die Form des Gebäudes stieß auf Widerstand. Die Demonstranten forderten lautstark die Beseitigung des Neubaus. Die abweisende Geschlossenheit der skulpturalen Großform sei ein Symbol eines elitären Kulturverständnisses, hieß es. „Das war meine erste Begegnung mit direktem Protest gegen eine Architektur, in die etwas hinein interpretiert wurde“, sagt Geerd Dahms.

Der Abriss begann im März 2013.

Der Abriss begann im März 2013.

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Die Düsseldorfer haben dem Tausendfüßler keine politischen Aussagen übergestülpt. Sie haben ihn mit fast euphorischen Glücksgefühlen belegt, als der Abriss Wirklichkeit zu werden drohte. „Ich möchte weiterhin in meine schöne Stadt einschweben können und nicht im Untergrund verschwinden müssen“, schreibt der Autor eines Blogbeitrag. „Man hatte das luxuriöse Erlebnis, die Stadt und den großen Park, in dessen See sich das Thyssen-Hochhaus spiegelte, von oben zu sehen, bevor das Auto gemächlich wieder hinabrollte“, heißt es in einem anderen Erlebnisbericht. Im Internet finden sich viele dieser emotionalen Schilderungen. Und auch die „Zehn Thesen für den Erhalt des Tausendfüßlers“, die die Bürgerinitiative „Lott stonn!“ zusammengetragen hat, strapaziert dieses Bild. „Auch in Autos sitzen Menschen! Sie schätzen die freie Fahrt und den freien Blick von der Hochstraße in die Stadt“, lautet These 4.

Der Blick von der Brücke scheint den Blick auf die Brücke und ihre Konstruktion getrübt zu haben. Die These 6 der Bürgerinitiative verharmlost die bestehenden Schäden fast schon poetisch: „Der Tausendfüßler ist nicht marode, er ist nur schmutzig und ungepflegt.“ Die elegant geschwungene Form und die oft gelobte Leichtigkeit der Konstruktion mögen dem Auge gefallen, dienen aber nicht der Halbbarkeit. „Die extrem sparsame Verwendung der konstruktiven Baustoffe Stahl und Beton stellt ein erhebliches Problem für den Bestand des Bauwerks dar“, urteilt Gutachter Geerd Dahms. Er spart nicht mit Kritik an den zuständigen Behörden: „Eine gründliche Betrachtung, insbesondere die Untersuchung hinsichtlich der durchgreifenden Schäden und den damit in Zusammenhang stehenden unerlässlichen Überarbeitungen, ist seitens des Landesamtes für Denkmalschutz offenbar weitestgehend unterblieben.“

Die Hochstraße ist marode und vielleicht sogar einsturzgefährdet.

Das Ingenieurbüro für Bauwesen Grassl zweifelt schon 2010 an der Sicherheit des Tausendfüßlers. Nach den geltenden DIN-Fachberichten und unter Berücksichtigung der dem heutigen Verkehrsaufkommen angepassten Verkehrslasten würde das Bauwerk „eine Nachrechnung bei weitem nicht bestehen“, heißt es in deren Gutachten. Übersetzt bedeutet das: Die Hochstraße ist marode und vielleicht sogar einsturzgefährdet, wenn die Nutzung nicht eingeschränkt wird. Eine Instandsetzung oder Erneuerung sei grundsätzlich möglich, würde aber „in erheblichem Umfang in das Tragsystem und das optische Erscheinungsbild der Hochstraße eingreifen“. Der Tausendfüßler wäre nicht derjenige geblieben, den die Düsseldorfer gekannt haben. Nun ist er restlos verschwunden. •

Eckdaten

Der Architekt:
Friedrich Tamms wurde von Adolf Hitler zum Professor ernannt. Ab 1948 leitete er den Wiederaufbau in Düsseldorf, wurde Beigeordneter, ab 1960 Dezernent für Bauwesen der Stadt. In Düsseldorf wirkte er als Wegbereiter der Nachkriegsmoderne. Seine Bedeutung als Architekt spiegelt sich in den drei Brücken wider, die mitten in der Stadt den Rhein queren.

Das Bauwerk:
Der Y-förmige Tausendfüßler hat „nur“ 21 Füße: elf Stützen unter der Geraden in der Verlängerung der Kaiserstraße, je fünf unter den Abzweigungen zur Immermannstraße und zur Berliner Allee. Die Hauptbrücke war 255 Meter lang, die Abzweige etwa 140 Meter.

Die Chronik:
6. Mai 1962: Der Tausendfüßler wird dem Verkehr übergeben. 13. Dezember 1993: Eintrag in die Denkmalliste unter der Kategorie technische Denkmäler. 11. März 2011: Amt für Verkehrsmanagement stellt Abrissantrag. April 2013: Der Abriss ist beendet.


Autorin: Rainer Kurlemann


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VIVID 03 | 2019

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