Der Konzern mit der Glas-DNA
Die Gerresheimer Glashütte stand über viele Jahre für die weltgrößte Glasproduktion. Diese Geschichte ging spätestens 2005 mit der Werksschließung in Düsseldorf zu Ende. Doch das Unternehmen Gerresheimer hat sich erfolgreich neu erfunden.
Ein 50 Meter hoher Glasturm, darauf ein blaues G mit einer Krone – das alte Logo von Gerresheimer. Es zeugt von einer längst vergangenen Zeit, von der Geschichte eines Unternehmens, das deutsche Industriegeschichte geschrieben hat, als Teil des Wirtschaftswunders in der jungen Bundesrepublik sehr erfolgreich wirtschaftete und schließlich fast vom Industriewandel überrollt worden wäre.
Heute heißen die Kunden des Konzerns Gerresheimer zum Beispiel BASF oder Procter & Gamble. Mitte des 20. Jahrhunderts hießen sie Coca Cola, Heineken, Granini, Afri Cola – denn die Glasflaschen der großen Getränkehersteller wurden im Düsseldorfer Stadtteil Gerresheim produziert – in der zeitweise größten Glasfabrik der Welt, 40 Fußballfelder maß die Fläche der Gerresheimer Glashütte. 8.000 Menschen arbeiteten zur Hochzeit dort. Das Unternehmen hatte sich auf die Herstellung von Standardglasbehältern spezialisiert, die einen hohen Wiedererkennungswert haben. Hinzu kamen besonders extravagante Produkte – wie etwa die Afri- Cola-Flasche, die in den Sechziger Jahren an beiden Seiten Einbuchtungen hatte und vor allem durch eine verruchte Werbekampagne mit Cola trinkenden Nonnen bekannt wurde.
Es war eine eigene Welt damals, dort in Gerresheim. Alles hatte seinen Anfang bereits 1864 genommen. Damals gründete Ferdinand Heye, Sohn eines Kaufmanns, in Gerresheim die gleichnamige Glashütte. Bereits 1888 wurde die Glasfabrik eine Aktiengesellschaft. Heyes Unternehmung wuchs schnell, später ließ er mehr als tausend Wohnungen für seine Arbeiter bauen, die sich stolz selbst „Hötter“ nannten. Sie prägten über Jahrzehnte hinweg das Leben im Düsseldorfer Stadtteil.
Bis in die Siebziger hinein glänzte die Gerresheimer Glas AG und ließ auch die Gegend rund um die Glashütte florieren. Dann kam der Abstieg. Ende der Siebziger Jahre geriet die Gerresheimer Glas in einen wirtschaftlichen Abwärtsstrudel. Einer der zentralen Erklärungen dafür liegt im Konsumwandel: „In den Siebziger und Achtziger Jahren kamen Kunststoffflaschen, Aluminiumdosen und Getränkekartons auf den Markt“, erklärt Jens Kürten, Senior Director Communication und Marketing bei Gerresheimer. „Zusammen mit dem umweltpolitischen Einfluss, der Einführung von Pfandsystemen, machte das den Markt unberechenbarer, wenn man hauptsächlich Wasser- und Bierflaschen produzierte.“ Die Nachfrage nach dem Produkt, dessen Produktion über Jahrzehnte tausende Menschen in Brot und Lohn gebracht hatte, sank. Gerresheimer war in seiner Existenz bedroht.
1977 stand auf dem Geschäftsbericht ein Jahresverlust von rund 100 Millionen Deutschen Mark, das Unternehmen sei so gut wie pleite gewesen, erinnerte sich Gunther Berger viele Jahre später. Er war in den späten Siebziger Jahren von IBM zur Gerresheimer Glas gekommen und kurz darauf auf den Chefposten gesetzt worden. Er gab gemeinsam mit dem Vorstand den Anstoß, etwas Grundlegendes zu verändern. Um das Unternehmen zu retten, entschied sich das damalige Management um Berger für eine harte Reform. Die sollte die Gerresheimer Nachbarschaft in ihren Grundfesten erschüttern und das Unternehmen im Kern verändern. Ein sehr schwieriger, aber wichtiger Schritt für den Fortbestand der Gerresheimer.
1987 fiel die zukunftsweisendste Entscheidung, die das Unternehmen in die Branche führen sollte, in der es bis heute so erfolgreich ist: Gerresheimer begann, Röhrenglasprodukte wie Glasspritzen, Injektionsfläschchen und Ampullen zu produzieren. „Wenn man sehr hochwertige Produkte in großen Stückzahlen herstellen kann, wie Gerresheimer es immer schon konnte, ist der Markt der Medikamenten- und Kosmetikverpackung ein viel interessanterer und sehr viel beständigerer“, so Kürten.
Überbleibsel aus der alten Zeit
Der Lauf der Gerresheimer-Geschichte gibt ihm recht: Bereits in den frühen Neunzigern verdiente Gerresheimer einen Großteil des Gelds mit Röhrenglas für Pharmakonzerne. Getränkeflaschen verloren immer mehr ihre Bedeutung als Gewinnbringer. Und die Düsseldorfer Glashütte war nur noch ein Werk von vielen und längst nicht mehr der Mittelpunkt der Gerresheimer-Produktion. Ein Überbleibsel aus dem sich verabschiedenden Industriezeitalter. Bereits bis 1981 halbierte der Vorstand die Belegschaft in Düsseldorf. 1996 arbeiteten nur noch 450 Menschen in der Glashütte in Düsseldorf. 1999 dann wurde das Werk an die Konkurrenz verkauft. Zu diesem Zeitpunkt war Gerresheimer fast gänzlich aus dem Geschäft mit den Getränkeflaschen ausgestiegen. 2005 schlossen sich die Werkstore in Gerresheim für immer. Die Glashütte wurde abgerissen.
Es folgten in den Achtzigern und Neunzigern mehrere Eigentümerwechsel. Ab 2005 begann für Gerresheimer dann der wirtschaftliche Wiederaufstieg. „Das war die Zeit, als wir zu Blackstone gehörten – und dann 2007 an die Börse gegangen sind – und die war sehr wichtig“, erklärt Kürten. „Sie war geprägt von großen Investitionen, beispielsweise in die Produktion von komplexen Produkten wie Insulin-Pens und Asthma-Inhalatoren und einem starken strategischen Fokus auf die Pharmaindustrie. Das legte ein super Fundament für das, was wir heute sind.“ 155 Jahre nach Gründung der Glashütte in Gerresheim sind Verpackungen für die Pharma- und Kosmetikindustrie das Hauptgeschäft des Düsseldorfer Unternehmens. Raus aus Düsseldorf-Gerresheim ist die Gerresheimer in die Welt gezogen. Mittlerweile arbeiten 10.000 Menschen an 40 Standorten in 14 Ländern für den Konzern. Das Unternehmen profitiert von einer ungebrochenen Nachfrage von Pharma- und Kosmetikunternehmen nach Glasbehältern für Medikamente und nach Flakons und vom gutlaufenden Geschäft mit Spritzen. Für 2019 rechnet Vorstandschef Dietmar Siemssen mit einem Umsatzanstieg auf 1,4 bis 1,45 Milliarden Euro. Und der Glashersteller will weiterwachsen und investiert in neue Zukunftsmärkte. Im Fokus derzeit: medizintechnische Produkte. So gehört seit Juli 2018 mit Sensile Medical ein Hersteller von Mikropumpen zur Gerresheimer.
Ganz von der eigenen Vergangenheit, seinen Wurzeln verabschieden – das ist aber nicht im Sinne der Gerresheimer. Obwohl man sich vom namensgebenden Stadtteil verabschiedete, kehrte das Unternehmen Düsseldorf nie ganz den Rücken. Zwar wird das moderne Gerresheimer-Glas heute nicht mehr in Düsseldorf, sondern unter anderem in anderen deutschen Städten oder gar in Mexiko, Indien oder den USA produziert, der Hauptsitz mit rund hundert Mitarbeitern bleibt Düsseldorf. Seit 2014 sitzt man in der Nachbarschaft des Flughafens, in der Airport-City. „Wir waren immer in Düsseldorf, und wir verstehen uns als Düsseldorfer Unternehmen. Es gibt keinen Grund, daran etwas zu ändern“, versichert Kürten.
Außerdem schlägt das Herz der Gerresheimer Glashütte, für die einst Ferdinand Heye den Grundstein legte, noch immer im Unternehmen, ist sich Kürten sicher: „Die Hälfte unserer Produkte besteht ja auch heute noch aus Glas. Und das Wissen um Glasproduktion ist Teil unserer DNA – nur spezialisierter als das vor über hundert Jahren der Fall war. “Ein Hauch vom einst größten Getränkeflaschenhersteller ist übrigens auch noch übrig. Nicht nur in Form des Gerresheimer Glashütten-Turms, der noch immer an Ort und Stelle thront. Etwa 40 Kilometer nördlich von Gerresheim, in Essen, produziert Gerresheimer noch heute eine kleine, aber feine Getränkeflasche – für den niederrheinischen Magenbitter Underberg. •
Firma: Gerresheimer AG
Klaus-Bungert-Str. 4
40468 Düsseldorf
Autorin: Katja Joho
Fotos: Gerresheimer Glashütte
VIVID 04 | 2019
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