“people need space”
Digitalisierung, Mobilitätswende und Urbanisierung: Architektur in Pandemiezeiten bewegt sich im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichem Wandel, aufgeschobenen Projekten und Zukunfts-Visionen. VIVID hat Düsseldorfer Architekt*innen nach Ideen für post-pandemische
Zeiten befragt.
Wie können Gebäude in Zukunft dazu beitragen, Pandemien einzudämmen? Widerspricht eine neue sterile Ästhetik der Sehnsucht nach Natur? Und vor allem: Was braucht urbaner Raum? Im Mittelpunkt fortschrittlicher Architektur stehen die Bedürfnisse der Menschen. Was der Lockdown besonders deutlich gemacht hat, ist Mangel an großzügigen nicht-ökonomischen Common Spaces. Auch in Düsseldorf. „Die Covid-Pandemie zeigt deutlich wie wichtig der öffentliche Raum ist: Sich so stark wie jetzt nur eingeschränkt im öffentlichen Raum aufhalten zu können, zeigt uns allen auf erstaunliche Weise wie sehr der Mensch noch analog ist und wie unglaublich viel uns „draußen“ sein fehlt“, sagt Mario Reale von greeen architects. Das Düsseldorfer Architekturbüro möchte soziale Mehrwerte durch die Kreation und nachhaltige Bauweise „gesunder“ Architektur schaffen. Aktuell verwirklicht es drei Hotels und eine neue Fußgängerzone mit Aufenthaltsqualität am Brennpunkt Hauptbahnhof.
„Die Covid-Pandemie zeigt deutlich wie wichtig der öffentliche Raum ist.“
Nicht erst in der Krise entstand eine große Nachfrage nach Fahrradspuren, breiteren Bürgersteigen und Grünräumen. Schon vorher existierten städtebauliche Ideen, zentral gelegene Düsseldorfer Bahnlinien zu überdeckeln und als grüne, multifunktionale Räume auszubauen. Das 2019 gegründete design.lab des Düsseldorfer Architektenbüros RKW hat als Projekt ein ganzes Stadtquartier als grüne Wohnbrücke über der Nord-Süd Bahntrasse entworfen – aus eindimensional genutzter Fläche wurde eine „Multichance für städtisches Leben“ simuliert. Viel Grün, Wohnraum und ein innovatives Verkehrskonzept – die Architektur der Zukunft setzt auf Infrastrukturen statt Immobilen, Mixed-Use statt Mono-Nutzung. Fortschreitende Urbanisierung? Ja, aber bitte lebenswert und nachhaltig. Statt Globalisierung erlebt durch Corona das Gegenteil derzeit einen Boom: die „Glokalisierung“. Das direkte Umfeld, das Stadtviertel, die Nachbarschaft werden wichtig. Alles in Laufnähe zu haben oder mit dem Rad schnell erreichen zu können – all das bietet die Stadt der kurzen Wege, die das Dorf im Namen trägt. Aber vor allem Düsseldorfs Innenstadt steht vor massiven Umbrüchen: fehlende Frequenz in den Fußgängerzonen, hohe Miete, die Konkurrenz durch den Onlinehandel und das Verschwinden inhabergeführter Läden waren bereits vor der Corona-Pandemie ein Problem. Leerstände will das Land Nordrhein-Westfalen mit einem Sofortprogramm zur Stärkung der Innenstädte begegnen – indem sie Ladenlokale unter Marktpreis an kreative Unternehmer vermietet werden.
Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig gerade Grünflächen als Kraftressource sind. Architekt Christoph Ingenhoven, der mit dem Köbogen II ein internationales Statement in Sachen urbaner Begrünung setzte, fordert auch angesichts des Klimawandels, die Straßen viel intensiver mit Bäumen zu bepflanzen, Fassaden und Dachflächen radikal zu begrünen. Die Stadt zu begrünen, Straßen für Menschen zurückzuerobern, ist auch die Idee hinter dem Blaugrünen Ring, einer geplanten neuen Flanier- und Kulturmeile entlang Rhein und Düssel. Eine zukunftsfähige Stadt hat einen geringen Energieverbrauch, nutzt Räume nachhaltig und produziert eine möglichst geringe Menge von nicht wieder verwertbaren Materialien. Der Bausektor ist schließlich international für ca. 50% des Ressourcen- und ca. 40 % des Energieverbrauchs verantwortlich.
Ein Beispiel für so genanntes zirkuläres Cradle-to-Cradle-Bauen ist das Bürohaus „The Cradle“, das HPP Architekten gemeinsam mit dem Ratinger Projektentwickler Interboden entwickelt haben. Neben der Klimafreundlichkeit ist das Mobilitätskonzept des Gebäudes richtungsweisend: Im Erdgeschoss wird eine Service-Stelle für Mobilität, ein sogenannter „Mobility-Hub“ etabliert – ein primär auf E-Mobilität ausgerichtetes Angebot mit Ladestationen, Car- und Bikesharing. Gemeinsam mit den Stadtwerken Düsseldorf arbeitet das Architekturbüro auch an einem Pilotprojekt für neue Mobilitätskonzepte in der Stadt: Individualverkehr aus dem Umland an einen citynahen Mobilitätshub in selbstfahrende Minibusse oder auf Leih-e-bikes umsteigen zu lassen. Um Verkehr zu drosseln, Autos aus der Innenstadt zu verbannen und die Straßen der Zukunft denen zu überlassen, die sie vielfältig beleben: Menschen. •
4 Statements with regards to architecture
Vom international tätigen Architektur- und Planungsbüro über den innovativen Mittelstand bis zum jungen Kreativ-Studio: Düsseldorfer Architekten und ihre vier Perspektiven zur Zukunft unserer Stadt.
Mobility and quality of life
„Auch wenn ein Teil der Bevölkerung durch die Erfahrungen der Pandemie aus der städtischen Dichte ins Umland ziehen wird, bleibt uns der Trend zur Urbanisierung erhalten. Eine lebendige, durchmischte Stadt der kurzen Wege – von der Wohnung zum Arbeitsplatz, zur Schule oder zum Einkauf – ist eine verkehrsärmere Stadt mit hoher Lebensqualität. Variable Mobilitätskonzepte, die einfach und komfortabel unterschiedliche Verkehrsmittel kombinieren, sind dabei ein wichtiger Schritt. Die Lebensqualität in Düsseldorf, insbesondere die Attraktivität der öffentlichen Räume in der City, hat sich durch städtebauliche Projekte wie den Rheinufertunnel, den Kö-Bogen oder die Wehrhahnlinie enorm verbessert. Weitere Veränderungen stehen mit dem Umbau der Kasernenstraße, der Breite Straße und des Heinrich-Heine-Platzes zu Orten mit weniger Verkehr und mehr Aufenthaltsqualität an.“ •
hpp Architekten
• Founded: 1933, 450 members of staff in 13 locations
• Current projects: Among others, the implementation of the mixed-use-quarter FOUR Frankfurt together with UNStudio, the Alibaba Campus in Hangzhou, the football stadium in Freiburg
The Architecture of culture
„Kann das Publikum in diesen pandemischen Zeiten nicht zur Kultur kommen, kommt die Kultur zum Publikum. Die Digitalisierung überrollt im Zeitraffer Kulturschaffende und -konsumenten, vom virtuellen 3D-Rundgang durch Museen über Livestreaming von Konzerten bis zur Social-Media-Kulturvermittlung. Dies alles kann jedoch das gemeinsame Kulturerlebnis nicht ersetzen, das Architektur erst ermöglicht: Die menschliche Begegnung braucht Raum! Übersehen wir aber bei aller Begeisterung für spektakuläre Neubauten von Museen und Philharmonien nicht, dass auch in die Tage gekommene Kulturbauten ein großer Reichtum sind, fest im Stadtbild verankert und Identität stiftend. Als Architekten widmen wir uns begeistert der Herausforderung, das Haus der Berliner Festspiele, das Berliner Haus der Kulturen der Welt, den Düsseldorfer Behrensbau, die Kunstsammlung NRW, das Theater Dortmund oder das Robert-Koch-Forum Berlin durch eine behutsame Sanierung und funktionale Ertüchtigung als kulturelles Gedächtnis zu stärken und für die Nutzung als Kultur- und Bildungsbauten zu sichern – als Bühne und Forum für das kulturelle Leben unserer Gesellschaft.“ •
Eller + Eller Architekten
• Founded: 1964, approx. 60 members of staff at locations in Düsseldorf/Berlin
• Focus: Architects and general planners with current national and international projects in the areas of modern work environments, culture, education, hotel, habitation, health
Post-pandemic urban life
„Wir müssen die „europäische Stadt“ wiederfinden. Es war schon mal alles da: Leben, Arbeiten, Wohnen neben- und nacheinander am selben Ort. Wir müssen die Lebens- und Aufenthaltsqualität zurück in die Stadt holen. Die lebenswerte Stadt benötigt durchgängige Nutzungen und gemischte Strukturen. Die Corona-Pandemie kann das Initial für den erforderlichen Stadtumbau bilden bzw. verstärken. Die Verkehrswende erzeugt eine neue Mobilität. Düsseldorf hat einen kompakten Stadtkörper, der sich gut mit dem Rad erschließen lässt. Grün kehrt in die Stadt zurück und beeinflusst das Klima positiv, der öffentliche Raum bietet vielfältige Nutzungen. Während des Lockdowns sind, von parkenden Autos befreite Straßenräume, zum Aufenthaltsort der Bewohner gewandelt worden. Die Architektur der Gebäude muss den Stadtraum verbessern und neue Qualitäten für die Bewohner der Städte bieten. Wir müssen verstärkt Um- und Weiterbauen, den Bestand einbinden und damit Ressourcen schonen. Glück auf.“ •
Pier7 Architekten
• Founded: 1999, 10 members of staff
• Focus: Apartments, day nurseries, schools, office buildings, research buildings, commercial space for conversion, expansion and new constructions
The aesthetics of variety
„Wir glauben, dass es die Vielfalt ist, die eine Stadt lebenswert und schön macht. Gerade eine gewachsene und durch viele verschiedene architektonische Epochen geprägte Stadt wie Düsseldorf zehrt daher von ihrem architektonischen Gedächtnis. Wir glauben, dass Architektur Menschen helfen sollte, das Zusammenleben zu gestalten. Sie sollte den Bewohnern dienen und sich immerwährend an ihre Bedürfnisse anpassen können. Diese Zeitlosigkeit macht ihre Schönheit aus. Das Prinzip eines „demokratischen Grundrisses“, welcher es den Nutzern erlaubt, frei über Aufteilung und Nutzung zu entscheiden könnte diesem Bestreben nach Beständigkeit näherkommen. Wir glauben, dass ein Zuhause dann schön ist, wenn es Kraft spenden und Wurzeln geben kann. Eine Architektur, die sich aus ihrer Konstruktion und der Funktion selbst ergibt, erzeugt eine ehrliche und klare Ästhetik, die ohne mühevolles Beiwerk Gelassenheit vermittelt. Diese Reduktion auf das Wesentliche und die Einbindung lokaler Einflüsse können einen Gegenpol zu einem temporeichen Alltag mit einer Fülle von Eindrücken und stetiger Veränderung schaffen.“
nidus
• Founded: 2016, 8 members of staff
• Current projects: New constructions and turn of the century city houses in Kaiserswerth, courtyard concepts with 12 residential units in Kaiserswerth
Words Karolina Landowski
Pictures PR, moka-studio 2017, Fotofrizz B. Kuhn, Ralph Richter Photodesign, HPP Architekten, HGEsch, pier7architekten/loomilux, Nidus